Extreme Meerestemperaturen: Was der warme Atlantik mit unserem Wetter macht
Europas Wettermaschine ist überhitzt. Der Nordatlantik, dem Europa sein mildes Klima und die von Westen kommenden, regenreichen Tiefdruckgebiete verdankt, ist fast ein halbes Grad wärmer als jemals zuvor zu dieser Jahreszeit. Dadurch lauern gigantische Mengen zusätzlicher Wärmeenergie vor den Küsten Europas. Doch was macht diese beispiellose zusätzliche Energie mit dem Wetter in Europa? Ist der warme Ozean ab sofort ein Dauerzustand, der die bereits durch den Klimawandel erhöhten Temperaturen Europas noch zusätzlich verstärkt?
Zwar heizen Landflächen die Luft im Sommer deutlich stärker auf als das Meer, weil sich der Kontinent in der Sonne viel schneller erwärmt, dennoch treibt der ungewöhnlich warme Ozean auch die Temperaturen nach oben. »Wenn Luftmassen schon warm vom Atlantik herkommen, werden sie am Tag über dem Land noch weiter von der Sonne aufgeheizt«, erklärt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. »Die Erfahrung zeigt, dass die Temperaturen bei uns stark davon abhängen, wie warm die Luftmassen schon ankommen.«
Eine weitere mögliche Folge seien stärkere Winde und mehr Gewitter. »Einfach gesagt, ist Wärme Energie«, erklärt Marilena Oltmanns vom britischen National Oceanography Centre (NOC) in Southampton. »Ein großer Teil der zusätzlichen Energie wird in mechanische Energie, also Wind, sowie in latente Wärme für Konvektion umgewandelt.« Konvektion, also aufsteigende warme Luft, liefert zum Beispiel auch die Energie für Gewitterstürme.
Mehr Feuchtigkeit vom Meer
Ein weiterer Faktor ist die Feuchtigkeit in der Luft. Wenn das Meer wärmer ist, verdunstet mehr Wasser, so dass auch mehr davon abregnen kann. Genau das steht uns in den nächsten Tagen bevor: Ein Tiefdruckgebiet über dem Nordatlantik bringt wechselhaftes Wetter und Regen von Westen heran. Ein warmer Ozean lindere deswegen aber nicht automatisch die Trockenheit in Europa, erklärt Rahmstorf. Er verweist auf Studien des Klimaforschers Reto Knutti von der ETH Zürich. Aus denen gehe hervor, dass das zusätzlich verdunstende Wasser nicht gleichmäßig die Regenmengen erhöht, sondern überwiegend die regenreichsten Tage noch ergiebiger macht. Das heißt, der warme Ozean erhöht die Wahrscheinlichkeit von Starkregen.
Allerdings sind die Meerestemperaturen nicht der wichtigste Einfluss für das Wetter in Europa. Großräumige atmosphärische Muster spielen eine bedeutendere Rolle: so etwa die Lage des Jetstreams. Der bestimmt die Verteilung von Hoch- und Tiefdruckgebieten und ist derzeit ungewöhnlich verschlungen und zerstückelt. Wie viel dazu der warme Nordatlantik beiträgt, ist jedoch fraglich. »Mehr als die hohen Meerestemperaturen selbst ist es das räumliche Muster der Anomalien, das wichtig ist«, sagt Joel Hirschi, ein Kollege von Marilena Oltmanns am NOC. »Wenn eine Anomalie den Temperaturgegensatz zwischen Nord und Süd reduziert, schwächt das den Jetstream eher.« Dazu trägt derzeit allerdings vor allem ein anderer Faktor bei: die überdurchschnittliche Erwärmung der Arktis durch den Klimawandel.
Deswegen ist es schwierig, einen direkten Einfluss des warmen Atlantiks auf unser Wetter dingfest zu machen. Ob und wie warm es zum Beispiel bei uns wird, bestimmen vielmehr die vorherrschenden Luftströmungen. »Die Temperatur der Meeresoberfläche ist relevanter, weil sie die großräumige Dynamik und Zirkulation der Atmosphäre beeinflusst«, sagt Oltmanns. »Dadurch ist der Einfluss der Meerestemperaturen auf die Windrichtung viel wichtiger für Europas Wetter als ihre Auswirkungen auf die Temperatur des Windes aus einer bestimmten Richtung.« Doch wie sich die Wettermuster durch den warmen Atlantik genau ändern, ist derzeit noch unklar.
Hurrikane können auch nach Europa kommen
Einen klaren Zusammenhang mit dem warmen Meer gibt es allerdings bei tropischen Wirbelstürmen, die sich über dem offenen Meer bilden und ihre Energie direkt aus der Wassertemperatur ziehen. Wegen der starken Temperaturanomalie hat die Hurrikansaison 2023 ungewöhnlich früh und aktiv begonnen. Im Juni haben sich im zentralen tropischen Atlantik bereits zwei Tropenstürme mit den Namen Cindy und Bret gebildet, die gleichzeitig über den Ozean zogen. Das gab es seit mehr als 50 Jahren nicht mehr.
Doch es gibt auch einen entgegengesetzten Effekt. »Für die Entwicklung von Hurrikanen sind zwei Faktoren entscheidend: hohe Meerestemperaturen und schwache Scherwinde in der Atmosphäre«, erklärt Joel Hirschi vom NOC. »El Niño verstärkt die Scherwinde und unterdrückt die Entwicklung von Hurrikanen.« Doch auch hier bringen die extrem hohen Wassertemperaturen große statistische Unsicherheiten in alle Vorhersagen. »Es könnten mehr Tropenstürme entstehen, aber durch die Scherwinde könnten sie auch schneller wieder kaputtgehen«, sagt Stefan Rahmstorf. »Wie sich diese bislang nie gesehene Kombination in der Summe auswirken wird, ist unklar.«
Für die Menschen in Europa könnte das noch wichtig werden, weil die tropischen Wirbelstürme es bis hierher schaffen können. Immer mal wieder treffen solche tropischen Stürme auf unseren Kontinent, und das besonders warme Wasser könnte sie mit überdurchschnittlich viel Energie versorgen. Das jedoch hängt davon ab, ob die Stürme überhaupt nach Norden abdrehen, statt nach Westen in Richtung Karibik und Nordamerika zu wandern. Darüber bestimmen Hoch- und Tiefdruckgebiete. »Das Azorenhoch ist dabei besonders wichtig«, erklärt Hirschi. »Wenn dieses Hochdruckgebiet auf den Ostatlantik beschränkt ist, begünstigt das Wirbelstürme, die nach Norden abdrehen.« Je länger die extreme Wärmeanomalie im Atlantik andauert, desto höher ist die Chance dafür.
Wie lang bleibt das Wasser warm?
Und sollten die hohen Wassertemperaturen bis zum Herbst bleiben, könnten sie einen noch deutlicheren Einfluss auf das nun stärker abgekühlte Festland ausüben. Doch auch in diesem Fall würden die großräumigen atmosphärischen Muster darüber bestimmen, wie sich dieser Einfluss ausprägt. »Ein sich windender und blockierter Jetstream würde den Winter kälter machen – unabhängig von den Meerestemperaturen«, sagt Hirschi. »Ein von West nach Ost strömender Jetstream dagegen würde das Wetter mild, feucht und stürmisch machen, zusätzlich verstärkt von den höheren Meerestemperaturen.«
Wie lang die außerordentlich erhöhten Meerestemperaturen jedoch anhalten, hänge vom Wetter im Juli und August ab, erklärt der Forscher. »Wenn wir einen Sommer wie im Jahr 2022 bekommen, werden die Temperaturen zweifellos so hoch bleiben oder sogar noch steigen.« Werde das Wetter wechselhaft , speziell bei einem starken Jetstream, könnten die Temperaturen dagegen in Richtung ihres langjährigen Durchschnitts zurückkehren.
Auch Stefan Rahmstorf sieht Anzeichen dafür, dass die Anomalie vorübergehend ist. Denn im Nordatlantik lauere vor Grönland und Island kaltes Wasser in der Tiefe, das derzeit wohl von einer Schicht warmen Wassers an der Oberfläche abgedeckt werde. »Das passiert im Sommer, wenn es wenig Wind gibt. Die dünne Oberflächenschicht, wir reden da vielleicht von 50 bis 100 Meter, kann sich in der Sonne relativ rasch aufheizen«, erklärt er. »Wenn im Herbst der Wind das Wasser bis in tiefere Schichten hineinmischt, kommt die Kälteblase wieder zum Vorschein.«
Tatsächlich könnte es mit dem anomal heißen Atlantik sogar noch schneller vorbei sein. Ungewöhnlich kühles Wasser vor der Ostküste der USA sei womöglich ein Anzeichen dafür, dass eine Schwächung des großräumigen subtropischen Wirbels dabei eine bedeutsame Rolle spielt. Denn verlangsamt sich die Strömung, hat das an den Rändern des Ozeans entgegengesetzte Auswirkungen auf die Temperatur: »Dann wird die Westseite kalt, die Ostseite warm», schreibt Rahmstorf auf Twitter. Die Passatwinde im Süden und die Westwinde im Norden, die den Wirbel antreiben, seien im letzten Monat auffällig schwach gewesen. Das heißt umgekehrt: Frischen diese Winde auf, könnten sich schon bald die Wassertemperaturen im östlichen Atlantik vor Europas Küsten wieder normalisieren.
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